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DRUCKVERSION Zurück zum Fluss

Erst wurden sie eingedeicht, dann trockengelegt, später in den Dienst der Nation gestellt, zuletzt wiederentdeckt: Flusslandschaften sind immer auch ein Spiegel des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, Moderne und Zweifel

von UWE RADA

Das große Graben

Eigentlich war Theodor Fontane Realist, doch bei der Betrachtung des Oderbruchs verspürte der Dichter der Effi Briest und der Wanderungen durch die Mark Brandenburg einen Phantomschmerz. Also trauerte er längst vergangenen Zeiten hinterher, in denen die Niederung der Oder noch eine wilde und fischreiche Flusslandschaft war. "In den Gewässern fand man: Zander, Fluß- und Kaulbarse, Aale, Hechte, Karpfen, Bleie, Aland, Zährten, Barben, Schleie, Neunaugen, Welse und Quappen. Letztere waren so zahlreich (zum Beispiel bei Quappendorf), daß man die fettesten in schmale Streifen zerschnitt, trocknete und statt des Kiens zum Leuchten verbrauchte“, notierte der preußische Schriftsteller und märkische Chronist. "Die Gewässer wimmelten im strengsten Sinne des Worts von Fischen, und ohne viele Mühe, mit bloßen Handnetzen, wurden zuweilen in Quilitz an einem Tage über 500 Tonnen gefangen. In den Jahren 1693, 1701 und 1715 gab es bei Wriezen der Hechte, die sich als Raubfische diesen Reichtum zunutze machten, so viele, daß man sie mit Keschern fing und selbst mit Händen greifen konnte.“

Jeder europäische Fluss hat seinen point o no return. An der Weichsel ist es das ausgehende 18. Jahrhundert mit der Aufteilung der Rzeczpospolita unter Preußen, Russland und Habsburg. Die "goldene Zeit“ der Weichsel als Ernährerin Europas war damit endgültg zu Ende. Auch die Oder war nach dem 18. Jahrhundert und der Trockenlegung des Oderbruchs nicht mehr der gleiche Fluss wie zuvor. Fontane, wiewohl ein Flussreisender des 19. Jahrhunderts, beschrieb in seinen Wanderungen die naturnahe Oderlandschaft des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Und er belagte damit auch die Moderne, denn die fischreiche Niederungslandschaft mit ihren Flussarmen, Tümpeln und Wasserlöchern wurde im 18. Jahrhundert – ganz im Geiste der Aufklärung – gründlich umgegraben. So wie das 19. Jahrhundert und der aufstrebende Nationalismus die politische Geschichte der Flüsse Mittel- und Osteuropas dominierten, schrieb sich das 18. Jahrhundert als kulturgeschichtliche Zäsur in die Flusslandschaften ein. Die Flüsse wurden begradigt, schiffbar gemacht, Niederungen wurden trockengelegt und Neuland wurde gewonnen für Kolonisten. Das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert markierten für die großen Ströme Weichsel und Oder, aber auch für die Memel und die Elbe den Sieg des Menschen über die Natur des Flusses.

Wie sehr der Mensch in die bis dahon oft noch unberührten Flusslandschaften eingegriffen hat, lässt sich an der Warthe beobachten. Wie das Oderbruch sollte auch die Wartheniederung bei Küstrin von Preußens König Friedrich II. urbar gemacht werden. Die Arbeiten begannen nach dem Siebenjährigen Krieg und dauerten von 1767 bis 1775. Doch dann ging das Geld aus, und bis heute sieht man zwei Landschaftstypen im Warthebruch, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Rund um Słonsk/Sonnenburg dominiert die typische Bruchlandschaft mit Entwässerungsgräben und Kolonistensiedlungen. Westlich davon erstreckt sich ein natürliches Überschwemmungsgebiet mit lebendigen Flussauen, ein Vogelparadies. Nicht zuletzt deshalb wurde das 8.000 Hektar große Areal im April 2001 als "Nationalpark Warthemündung" geschützt — damals der jüngste Nationalpark Polens.

Doch dieses Nebeneinander ist eher ein Sonderfall des 18. Jahrhunderts, dieser großen Zäsur für die Flüsse. In seinem Mammutwerk über die Geschichte der deutschen Landschaft sieht etwa der britische Historiker David Blackbourn die Trockenlegung des Oderbruchs durch Friedrich II. als Startschuss für eine epochale Umgestaltung der Landschaft. Die spätere Begradigung des Oberrheins durch Johann Gottfried Tulla oder die Entwässerung des Jadebusens und die Gründung von Wilhelmshaven als Standort für die deutsche Kriegsmarine waren für den ehemaligen Direktor des Center for European Studies an der Harvard-Universität nur die logische Konsequenz aus diesem ersten Schlachtfeld im Kampf des Menschen gegen die Natur im 18. Jahrhundert. "Ländereien urbar zu machen, beschäftigt mich mehr als Menschenmordungen", zitiert Blackbourn Friedrich II. Und kommt zum Schluss: "Aus der Rückschau war das Oderbruch die Region, in der alles begann."

In der deutschen Perspektive auf die Geschichte der Flüsse und der Landschaften, die sie hervorgebracht haben, ist die Trockenlegung jener Sumpfniederung zwischen Lebus und Oderberg, in der einmal Wölfe, Bären und Millionen von Mücken lebten, bis heute eine Großtat der Moderne. Die größte Landschaftsbaustelle des 18. Jahrhunderts, in der von 1747 bis 1753 Tausende von Arbeitern und Soldaten der Oder von Güstebiese bis Hohensaaten ein neues Bett schaufelten, den Lauf des Flusses um 24 Kilometer verkürzten, neue Deiche auftürmten und die Sumpflandschaft mit Kanälen und Gräben entwässerten, gehört zu den herausragenden Leistungen preußischer Zivilisation und Modernisierung – und trug ebenso wie die militärischen Erfolge dazu bei, Friedrich als "Großen" zu verehren. Noch heute steht sein Konterfei in zahlreichen Dörfern im Oderbruch.

Für Blackbourn dagegen ist die Trockenlegung des Oderbruchs auch ein Sündenfall - der Beginn der Eroberung der Natur durch den Menschen mit all den Ambivalenzen, die diese in den Jahrhunderten danach mit sich brachte. Vor allem aber ist das Oderbruch in seiner heutigen Gestalt für Blackbourn nicht das letzte Wort der Geschichte. Schließlich ist Landschaft, so das Credo des Historikers, nichts für die Ewigkeit. Landschaft ist immer auch ein Abbild des Umgangs des Menschen mit seiner – inneren wie äußeren – Natur.

Kampf gegen das Wasser

Wer am Höhbeck, mit 76 Metern eine der höchsten Erhebungen am linken Ufer der mittleren Elbe, auf den dortigen Aussichtsturm steigt, hat nicht nur einen atemberaubenden Blick auf die Elbe, neben Weichsel, Memel und Oder einer der letzten frei fließenden Ströme Mitteleuropas. Er sieht auch den Turm der Burg Lenzen, in der der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND ein Besucherzentrum des "Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe“ betreibt – einschließlich einer Ausstellung, die den Wandel der Flusslandschaft verdeutlicht. Vor der Eindeichung des Stroms ab dem 10. Jahrhundert war der Höhbeck kein Berg, sondern eine Insel, umspült von zahlreichen Armen der Elbe.

Als Karl der Große im Jahr 808 Lenzen als einen wichtigen Handelsort an der Elbe pries, war der Strom noch unberührt. Immer neue Wege suchte sich das Wasser, schuf Inseln, kürzte ab, vertiefte sich, blieb stecken. Ein Gewimmel von Wasserläufen bildete das bis zu zehn Kilometer breite Elbtal bei Lenzen. Bis heute ist der Verlauf der Arme auf dem Aussichtsturm am Höhbeck zu erkennen. Der Restorfer und der Laascher See bei Gartow waren einmal Teil der Elbe, ebenso die Löcknitz bei Lenzen.

Die Slawen am rechten Ufer der Elbe siedelten in Lunkini, wie Lenzen damals hieß, nicht gegen, sondern mit dem Wasser. Die drei Burgwälle, die bislang ausgegraben wurden, sind auf einem künstlich aufgeschütteten Burgberg errichtet worden. Andere Siedlungen, wie etwa die heute nicht mehr existierende Burg in Lenzen-Neuhaus, befanden sich sogar zwischen den Wasserläufen – zur Kontrolle der Furten. Als Grund für die Nähe der slawischen Siedlungen zur Elbe vermuten Archäologen den Schutz vor Feinden. Sümpfe und Wasser waren also nicht nur Bedrohung, sie gaben auch Schutz. Und sie boten gute Voraussetzungen für Ackerbau und Viehzucht.

Nicht nur bei den Obodriten und Linonen in Lenzen war das "Leben mit dem Wasser“ Alltag, sondern auch bei den anderen Stämmen der "Polaben“, den "an der Elbe lebenden“ Elbslawen. Das galt auch für die anderen Ströme Mittel- und Osteuropas.

Allerdings bedeutete das Wasser nicht nur Reichtum, sondern auch Gefahr. Der polnische Chronist Jan Długosz berichtet in seiner Chronik von einem Hochwasser, das das Jahr 1221 an der Oder zu einem Schicksalsjahr machte:

"Ta straszliwa i niezwykła powódź wiele wsi na nizinach leżących całkiem niemal zniszczyła i zalała, przeszkodziła siewom wiosennym, a co w jesieni posiano, to zniweczyła do szczętu; tylko nie wiele miejsc, gdzie pola na wzgórkach i innych wyżynach były położone, od tej plagi ocalało. Zniszczone przeto takimi zalewami zboża wielką klęską dotknęły nie tylko Polskę, ale i wszystkie kraje okoliczne, gdzie podobne panowały powodzie.“

Im 13. Jahrhundert begann sich an der Oder ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse abzuzeichnen. Allein die Agrarrevolution sorgte für einen beispiellosen Bevölkerungsboom. Innerhalb von nur drei Jahrhunderten war die Bevölkerung um fast das Dreifache gewachsen.

Auch die Schifffahrt nahm nun einen Aufschwung. An der Oder datiert ihr Beginn zehn Jahre vor dem verheerenden Hochwasser, das Jan Długosz beschrieben hatte. 1211 wurde den Mönchen des Zisterzienserklosters Leubus durch Herzog Heinrich I. das Privileg zugestanden, zweimal im Jahr zwei Schiffsladungen Salz zollfrei aus Guben zu holen. Anfangs war der Transport auf dem Fluss noch mühselig. Wie die Elbe floss die Oder damals durch ein breites Tal, immer wieder änderte sie ihren Lauf, so dass der beste Fahrweg für die Kähne von den Schiffsleuten durch Zweige abgesteckt wurde.

Dann aber folgte der Ausbau der Oder durch den Bau von Deichen und Wällen, der Querschnitt des Stroms wurde verringert, das Flussbett eingetieft. An der Elbe hatte die Eindeichung schon vorher begonnen. Nach dem großen Slawenaufstand und dem Sieg des Askaniers Albrecht der Bär, der 1157 die Brandenburg von den Slawen zurückerobert und die gleichnamige Mark gegründet hatte, begann in Mitteleuropa die erste Umgestaltung in der Geschichte der Flusslandschaften von Menschenhand. Davon gibt die zeitgenössische Chronik des Helmold von Bosau Auskunft:

"Zu jener Zeit herrschte Markgraf Albrecht mit dem Beinamen 'Der Bär' über das östliche Slawenland (…). Er unterwarf das ganze Land der Brisanen, der Stoderanen und der vielen an Havel und Elbe siedelnden Stämme und zügelte die Rebellen unter ihnen. Als die Slawen dann weniger wurden, sandte er nach Utrecht und in die Lande am Rhein, obendrein zu denen, die am Ozean lebten und unter den Meeresgewalten litten, nämlich zu den Holländern, Seeländern sowie Flamen.“

So wurde das 12. Jahrhundert an der mittleren Elbe zum Auftakt der Binnenkolonisation sowie – mit der Gründung der Neumark östlich der Oder – zum Beginn der Ostsiedlung. Mit der Neubesiedlung wurde der Kampf gegen das Wasser aufgenommen. 1015 und 1118, also noch zu Zeiten der Slawenkriege, hatten Hochwasser an der Elbe schwere Schaden angerichtet. Doch nun kam mit den Siedlern aus den Niederlanden die Deichbaukunst an die Elbe und später an die Oder. Den Geist der Zeit brachte schon damals die Wendung hervor: "Wer nicht will deichen, muss weichen.“

Flüsse und Nationen

Die Ostsiedlung galt, zumal in Polen, lange als Teil des deutschen "Drangs nach Osten“. Eine gemeinsame deutsch-polnische Bewertung des planmäßigen Landesausbaus und der Gründung deutschrechtlicher Städte, die das gesamte Europa östlich der Elbe zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert gewaltig beeinflusst haben, wurde erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts möglich. Mittlerweile, meint der Stettiner Historiker Jan Piskorski, seien sich deutsche und polnische Historiker über die Bewertung dieser Zeit weitgehend einig. Die Ostsiedlung, resümiert Piskorski, "trug zum Zusammenbruch des alten, weniger leistungsfähigen Wirtschafts- und Steuerwesens bei und gestaltete das Bild der ländlichen Siedlung bis zum 20. Jahrhundert. Außerdem rief sie die sogenannten freien oder neuen Städte und das Bürgertum ins Leben und beeinflusste eine tiefe Umgestaltung der verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.“

Mit diesem Modernisierungsschub einher ging auch die Veränderung der Flusslandschaften. Das slawische "Leben mit dem Wasser“ wich dem planmäßigen Deichbau nach niederländischem Vorbild. Von nationalen Kategorien konnte in dieser Modernisierungsphase des angeblich "dunklen Mittelalters“ aber noch keine Rede sein, schreibt die Weichselkennerin Eva-Maria Stolberg von der Ruhr-Universität Bochum in ihrem Essay "Heimat Fluss“:

"Der Fluss war für die Menschen, ungeachtet der ethnischen Vielfalt, in erster Linie Heimat. Im Umgang mit der natürlichen Ressource entwarfen sie Überlebensstrategien, die sich nicht sehr voneinander unterschieden. Gerade das Leben von Polen, Deutschen und Litauern in einer gemeinsamen Flusslandschaft, das weitgehend agrarisch geprägt war, weist auf die bisher kaum beachteten transnationalen Facetten des Alltagslebens.“

Das galt auch noch für die Zeit des großen Grabens und Schaufelns im 18. Jahrhundert. Doch das 19. Jahrhundert klopfte schon an die Tür und mit ihm die nächste Zäsur. Mit der Industrialisierung wurden nicht nur die Flüsse mit Bhnen reguliert und mit Wasserbauwerken aufgestaut, in vielen Städten wurden die Flussufer zu Kloaken und Hinterhoflagen. Die Moderne brachte auch die Nation und den Nationalismus hervor. Neue Grenzen wurden gezogen – und die Flüsse wurden nun national aufgeladen und zu Trägern nationaler Erzählungen. So wurde die Moldau zum nationalen Fluss der Tschechen, die Deutschen hielten sich an den "Vater Rhein“, und die Polen sangen Lieder über die Weichsel.

Im Gegensatz zu Oder, Rhein und Elbe, die nun weitgehend in einer staatlichen Hand waren, weist die Geschichte der Weichsel eine Besonderheit auf, denn nach den Teilungen Polens war auch die Weichsel zu einem geteilten Strom geworden. Der Oberlauf mit Krakau gehörte auf einer Strecke von 176 Kilometern fortan zum Habsburgerreich. Der 706 Kilometer lange Mittellauf mit Warschau unterstand Russland, und der Unterlauf samt Delta gehörte auf einer Länge von 222 Kilometern zum preußischen Teilungsgebiet.

So entstanden, je nach Zugehörigkeit, verschiedene Weichsellandschaften. Preußen etwa begann seinen Weichselabschnitt bald auszubauen, auch um die Wasserstraße als Konkurrenz zur Eisenbahn zu ertüchtigen. Von 1879 bis 1909 wurden zehn Millionen Mark in den Ausbau der Strecke unterhalb von Thorn investiert. Aber auch die Weichselquerung war ein Infrastrukturprojekt ersten Ranges. Höhepunkt war der Bau der stählernen Weichselbrücke bei Dirschau 1891, die 1910-1912 verlängert wurde. Ludwig Passarge feierte dies in seinen Reiseskizzen Aus dem Weichseldelta als große deutsche Ingenieursleistung.

Ganz anders im russischen Teilungsgebiet. Dort wurden, wie 1885 bis 1895 bei Warschau, nur kleinere Regulierungsarbeiten durchgeführt. Damit boykottierte Russland die Bestimmungen des österreichisch-russischen Vertrages von 1864, demzufolge alle drei Teilungsmächte Konzepte zur Regulierung des gesamten Stromes vorlegen sollten. Doch Petersburg war nicht an einem Ausbau gelegen. Im Gegenteil: Indem Danzig und Elbing von den Transporten auf dem Flussweg abgeschnitten wurden, profitierten die russischen Schwarzmeerhäfen wie Odessa. 1914, kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, lehnte Russland den Ausbau endgültig ab.

Habsburg wiederum war mit dem Oberlauf der Weichsel von den wichtigen Schifffahrtswegen abgeschnitten. So ist die Weichsel ein Beispiel dafür, wie der Gang der Geschichte ganz unterschiedliche Flusslandschaften an einem einzigen Strom hervorbringen kann. Dass heute vor allem die mittlere Weichsel als naturnahe Flusslandschaft Touristen anzieht, ist eine Hinterlassenschaft russischer Geopolitik. Gleichzeitig war es aber auch der Mythos der Weichsel als "Königin der polnischen Flüsse“, der dazu beitrug, dass Polen nach dem Ersten Weltkrieg seine Staatlichkeit auch kulturell unterfüttern konnte. Ihre Rolle als staatsbildender Fluss hat Przemysław Smolarek in der Zeitschrift Rzeki (Flüsse) umrissen, wenn er schreibt: "In der Geschichte unserer Nation hat sie eine besondere Rolle gespielt. Zuerst eine kulturbildende, die in einem gewissen Sinne der Rolle ähnelte, die die Flüsse Nil, Euphrat, Tigris, Ganges oder Yang-Tse bei der Formung der ältesten Gesellschaften gespielt haben. Entlang ihrer Ufer konsolidierte sich die polnische Staatlichkeit. An ihren Ufern entstanden Wohnstätten, Siedlungen, später Städte, darunter solch historische und das Polentum fokussierende wie Krakau und Warschau. An ihrer Mündung […] entstand das slawische Danzig."

Wiederentdeckung der Flüsse

Wer vom brandenburgischen Mescherin nach Gryfino in der Woiwodschaft Lubuskie radelt, bekommt heute ganz großes Fusskino geboten. Zuerst geht es auf einer Brücke über die Westoder. Dahinter beginnt das Zwischenoderland (Międzyodrze), das schon zur Gemeinde Widuchowa gehört und damit zu Polen. Vier Kilometer breit ist diese Amazonaslandschaft an dieser Stelle, unterbrochen von zahlreichen Wasserläufen, Altarmen, Tümpel, fast so wie das Oderbruch, das Theodor Fontane vor dem großen Graben und Schaufeln im 18. Jahrhundert beschrieben hat.

Nach dem Zwischenoderland folgt schließlich die Ostoder, die deutlich breiter ist als die Westoder. Hinter der Brücke liegt, zwischen Flusstql und Höhenkamm, Gryfino. Dieser vielleicht beeindruckendste Abschnitt der Oder ist inzwischen geschützt. In Mescherin endet der Nationalpark Unteres Odertal (Park Narodowy Dolniej Doliny Odry) und es beginnt der Landschaftsschutzpark Unteres Odertal (Park Krajobrazowy Dolniej Doliny Odry). Die Untere Oder ist eine der artenreichsten Flusslandschaften Europas, alleine 293 Vogelarten wurden bislang nachgewiesen, darunter Singschwäne und Seeadler. Im Juli 2014 wurde dort der erste Wisent in freier Wildbahn in Deutschland geboren.

Dass dieser Abschnitt der Oder von Polen und Deutschen als schützenswert erachtet wurde, hat mit einer Wiederentdeckung der Flusslandschaften zu tun, die nach der Eindeichung im Mittelalter, dem großen Schaufeln des 18. Jahrhunderts und der Nationalisierung im 19. und 20. Jahrhundert das vorerst letzte Kapitel der Flüsse und ihrer Landschaften aufschlägt.

In den verwinkelten Räumen von Globalisierung und Bindestrich-Identitäten bieten die Flüsse offenbar jenes Maß an Orientierung, das im Alltag verloren gegangen ist. Flüsse haben einen Anfang und ein Ende, wer sich an die Uferwege hält, kann nicht auf Abwege geraten, die Wege, die wir befahren, sind älter als wir selbst, schließlich hat sich der Fluss seinen Lauf schon vor Millionen von Jahren gebahnt. Nicht zuletzt bieten Flüsse auch jenen Moment des Innehaltens, den wir sonst so sehr vermissen: Wir schauen zurück auf das, was war, und voller Hoffnung und mit ein bisschen Ehrfurcht blicken wir auf das, was uns noch bevorsteht. Reisen an Flüssen ist ein besonderes Erlebnis von Raum und Zeit. David Blackbourn hatte Recht. Im Umgang mit dem Flüssen erkennt sich der Mensch auch selbst.

Ob aus dieser Wiederentdeckung tatsächlich wieder neue, alte Flusslandschaften entstehen, ist aber noch nicht ausgemacht. Denn so groß das Bedürfnis nach Erholung ist, das in vielen Städten neue Promenaden und naturnahe Parks hervorgebracht hat, so sehr sind Flüsse auch 1a Lagen für Investoren. Und auch außerhalb der Städte werden erbitterte Konflikte um die Zukunft der Flüsse ausgetragen. Vor allem die Oder, so will es die polnische Regierung, soll wieder zu einer Wasserstraße ausgebaut werden. Zahlreiche polnische und deutsche Städte aber haben sich längst für eine andere Zukunft entschieden. Und die heißt sanfter und naturnaher Tourismus.


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